Jahrzehnte ohne Rollstuhl

"Wir sind bei MS auf einem guten Weg"

Fast 90 Prozent der MS-Kranken kommen im Zeitalter wirksamer Basistherapien ein bis zwei Jahrzehnte ohne Rollstuhl und Gehhilfen aus, davor waren es etwa 50 Prozent. Eine sekundär-progrediente MS-Form trifft im Laufe von 20 Jahren nur noch ein Viertel.

Von Thomas Müller Veröffentlicht:
'Wir sind bei MS auf einem guten Weg'

© Huntstock / DisabilityImages / Thinkstock

SAN FRANCISCO. Mit heutigen MS-Therapien lassen sich die Schübe von MS-Kranken gut in Schach halten. Ob sich dadurch die langfristige Prognose verbessert, ist weit weniger klar. Zwar spricht vieles für ein Ausbremsen der Erkrankung, wenn die Schubzahl zurückgeht, es wird aber auch vermutet, dass schon früh im Krankheitsverlauf neurodegenerative Prozesse in Gang kommen, die unabhängig von Schüben die Erkrankung und damit die Anhäufung von Behinderungen vorantreiben. Ob eine moderne MS-Therapie also den Rollstuhl zehn oder zwanzig Jahre nach der MS-Diagnose verhindern kann, wird auf Kongressen heftig diskutiert. Da es keine kontrollierten Vergleichsstudien über so lange Zeiträume gibt und geben wird, müssen sich Forscher andere Methoden zunutze machen, um diese entscheidende Frage zu beantworten – mit all den Fallstricken, die sich aus indirekten Vergleichen ergeben.

Langzeitdaten ausgewertet

Eine relativ einfache Möglichkeit bieten Kohortenstudien: Haben MS-Kranke heutzutage eine bessere Prognose als noch vor Einführung der Basistherapien mit Interferonen und Glatirameracetat? Zumindest diese Frage sollte sich inzwischen beantworten lassen, schließlich sind diese Präparate seit mehr als 20 Jahren auf dem Markt. Das haben sich auch Neurologen um Dr. Bruce Cree von der Universität in San Francisco gedacht und Langzeitdaten der Studie EPIC ausgewertet (Ann Neurol 2016; 80: 499). In diese Untersuchung hatten sich von 2004 bis 2005 insgesamt 517 MS-Kranke eingeschrieben. Nach zehn Jahren konnten die Forscher um Professor Stephen Hauser noch 471 Patienten nachuntersuchen – das sind immerhin 91 Prozent der ursprünglichen Kohorte.

Bevorzugt waren zwar Patienten mit neudiagnostizierter MS in die Studie aufgenommen worden, im Schnitt waren die Teilnehmer bei Studienbeginn jedoch schon sieben Jahre erkrankt. Rund 13 Prozent hatten zum Start der Untersuchung eine progrediente MS (PMS), diese Patienten erlitten ihre ersten MS-Symptome bereits 15 Jahre zuvor. Bei denen mit schubförmiger MS (RMS) lag der Krankheitsbeginn im Mittel sechs Jahre zurück. Die Patienten wurden in der Regel alle mit Interferonen und Glatirameracetat versorgt, darüber hinaus erhielten sie Natalizumab, Rituximab, Mitoxantron oder Cyclophosphamid, falls die Basistherapeutika nicht genügten.

41 Prozent über zehn Jahre stabil

Wie sich zeigte, kam es bei 59 Prozent der verbliebenen Patienten im Laufe der zehn Jahre zu einer klinisch signifikanten und anhaltenden Verschlechterung des EDSS-Werts. Davon gingen die Forscher aus, wenn sich der Wert ausgehend von 0 auf mindestens 1,5 Punkte gesteigert oder wenn er sich bei einem Ausgangswert von 1 bis 5 Punkten um mindestens einen und darüber um mindestens einen halben Punkt erhöht hatte. Immerhin 41 Prozent der Patienten blieben also klinisch stabil, von denen mit schubförmiger MS sogar 45 Prozent. Dagegen kam es bei über 75 Prozent der Patienten mit PMS zu einer klinischen Verschlechterung, und von den PMS-Patienten mit einem EDSS-Wert über 3 Punkten zu Beginn verschlechterten sich alle. Bei den RMS-Patienten war der EDSS-Wert zu Beginn jedoch wenig aussagekräftig, Behinderungsprogressionen traten unabhängig davon ähnlich häufig auf.

Eine sekundär progrediente MS hatten nach 17 Krankheitsjahren nur 18 Prozent der MS-Patienten entwickelt. Das war deutlich weniger als erwartet. So hatten in Studien vor der Interferon-Ära über die Hälfte der Patienten nach 20 Jahren eine PMS entwickelt. Umgerechnet auf 17 Jahre hätte der Anteil zwischen 36 und 50 Prozent liegen müssen, er war also um den Faktor 2 bis 3 geringer. Ähnliche Unterschiede gab es bei schweren Behinderungen. Nur 11 Prozent alle Patienten hatten zum Studienende und nach einer mittleren Krankheitsdauer von 17 Jahren einen EDSS von 6 oder mehr – sie benötigten also Gehhilfen oder einen Rollstuhl. Hier lag der Wert in früheren Studien in vergleichbaren Zeiträumen oft bei 50 Prozent.

Insgesamt ergibt sich nach diesen Daten ein Zehnjahresrisiko von 6,4 Prozent sowie ein 20-Jahresrisiko von 24 Prozent für einen Übergang von einer RMS zu einer PMS. Drei Viertel aller RMS-Patienten sind nach zwei Dekaden also noch in der schubförmigen Phase. Das Risiko für eine schwere Gehbehinderung (EDSS mindestens 6 Punkte) liegt bei knapp 5 Prozent nach zehn und 16 Prozent nach 20 Jahren.

Erstaunlicherweise sagte die MRT-Aktivität in den ersten beiden Jahren wenig über die Prognose aus. Und Patienten, die in den ersten beiden Studienjahren keinerlei Krankheitsaktivität zeigten (NEDA), hatten deswegen nach zehn Jahren im Schnitt keinen geringeren EDSS-Wert als solche mit erneuten Schüben und MRT-Läsionen. Tendenziell schnitten Patienten mit NEDA in den ersten beiden Jahren langfristig sogar etwas schlechter ab. Dies widerspricht der derzeitigen Auffassung, wonach eine hohe Krankheitsaktivität mit rascher Behinderungsprogression und schlechter Prognose einhergeht. Allerding darf vermutet werden, dass hochaktive Patienten aggressiver behandelt wurden und häufiger eine Eskalationstherapie erhielten – vielleicht ist die relativ gute Prognose gerade dieser intensiven Therapie zu verdanken. Ein weiteres Ergebnis: Niedrige Vitamin-D-Werte scheinen zwar kurzfristig Schübe zu begünstigen, haben aber für die langfristige Prognose keine Relevanz.

Selbstständigkeit lange erhalten

"Die Zahlen stammen zwar nur aus einem einzigen Zentrum, deshalb muss man sie mit Vorsicht interpretieren. Sie zeigen aber, dass wir bei MS auf einem guten Weg sind und unseren Patienten heute eine Vielzahl Therapien anbieten können, die ihre Selbstständigkeit und Lebensqualität lange erhalten", kommentiert Professor Heinz Wiendl von der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) das Studienergebnis in einer Mitteilung.

"Die Studie verdeutlicht aber auch, dass die MS-Forschung noch lange nicht am Ziel ist", so der Direktor der Klinik für Neurologie an der Universität Münster. "Wir können noch nicht allen Patienten schwere Einschränkungen ersparen und haben noch keine guten individuellen Vorhersagemöglichkeiten für den Verlauf und das Ansprechen auf die Therapie."

Lesen Sie dazu auch den Kommentar auf Seite 2

Die EDSS-Skala

Defizite bei MS werden mit der Expanded Disability Status Scale neurologisch bewertet.

Die Werte reichen von 0 (normal) bis 10 (Tod durch MS).

Gehfähige Patienten werden im Bereich 1 bis 4,5 bewertet.

Rollstuhlbedürftig sind Patienten bei 7; das heißt, sie können selbst mithilfe Anderer nicht mehr als 5 m gehen.

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